Seit Oktober 2022 und noch bis zum Januar 2023 zeigt das Kulturhistorische Museum Rostocks die Ausstellung „Heinkel in Rostock – Innovation und Katastrophe“ und trägt damit zur Belebung einer Debatte bei, die Rostock seit mehr als zwanzig Jahren immer mal wieder, doch bei weitem nicht konsequent geführt hat. Was kann diese Ausstellung leisten? Welche Fragen bleiben offen und was ergibt sich damit als „Arbeitsauftrag“ an die Stadtgesellschaft? Zu diesen und weiteren Fragen kam die Redaktion der Rostocker „Stadtgespräche“ im Vorfeld der ausstellungsbegleitenden Tagung mit Dr. Roman Fröhlich ins Gespräch. Der Politikwissenschaftler ist seit 2016 pädagogischer Leiter der Stiftung wannseeFORUM, hat viele Jahre intensiv zu Ernst Heinkel geforscht und zu Handlungsspielräumen Ernst Heinkels und der Unternehmensleitung beim Einsatz von KZ-Häftlingen promoviert.
DIE FRAGEN STELLTE DR. KRISTINA KOEBE, CHEFREDAKTEURIN DER STADTGESPRÄCHE
Stadtgespräche: Wie kamen Sie in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit dem Thema Ernst Heinkel in Berührung?
Dr. Roman Fröhlich: Mein Einstieg war die Beschäftigung mit den KZ-Außenlagern an den Standorten der Heinkelwerke – ein bis dato wenig erforschtes Thema. In diesem Kontext stellte ich mir dann sehr schnell die Frage, was das eigentlich für ein Mensch ist, der einerseits als technische Koryphäe glorifiziert wird, andererseits aber so sehr mit dem Thema Zwangsarbeit in Verbindung steht. Ich habe mich gefragt, welche Handlungsspielräume er und die ganze Unternehmensleitung der Heinkelwerke tatsächlich hatten. Die Rostocker Ausstellung greift hier eines meiner Forschungsergebnisse auf. Schon 1940 setzte das Unternehmen in seinem Oranienburger Werk Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen ein.
Stadtgespräche: Welches Bild hat sich in ihrer Forschung gezeichnet: War Heinkel in seinem unternehmerischen Agieren vor allem Getriebener der damaligen Umstände?
Dr. Roman Fröhlich: Heinkel war ganz klar Akteur, ein Unternehmer, der die Situation aktiv für sich und seinen Betrieb nutzte. Daran gibt es in der kritischen Unternehmensgeschichte keinen Zweifel. Prof. Dr. Paul Erker stellte zum Beispiel fest, dass sich Ernst Heinkel sehr früh, ohne Not, vorbehaltlos und bis zuletzt in den Dienst des NS-Regimes gestellt hat. Schwieriger ist, zu unterscheiden, wo Ernst Heinkel persönlich involviert war und wo es eher seine Mitarbeiter waren – darunter etwa Otto Köhler oder Karl Hayn, der ganz offensichtlich immer dann eine zentrale Rolle spielte, wenn es um den Einsatz von KZ-Häftlingen ging.
Stadtgespräche: Welche Rolle spielten diese in den Heinkelwerken – und konkret auch in Rostock?
Dr. Roman Fröhlich: Zunächst wurden ja in der Flugzeugproduktion vor allem hochqualifizierte Mitarbeitende gebraucht. Als dann aber die Fließbandfertigung begann, ließen sich hier zunehmend auch weniger qualifizierte Personen einsetzen. Und da bot sich, wenn man frei von entsprechenden Skrupeln war, der Einsatz von Häftlingen und Zwangsarbeitenden an. In den Heinkelwerken entdeckte man hier früh eine Arbeitskraftressource und machte sie sich zunutze. Schon ab 1940 nimmt der Häftlingseinsatz in den Werken sukzessive zu, zunächst in einem Straßenbaukommando, ein Jahr später dann in den Werkhallen für Hilfstätigkeiten. Im Frühjahr 1942 schien der Unternehmensleitung eine umfassende Umstellung der Beschäftigten auf KZ-Häftlinge durchführbar. Ab August 1942 wurden die Häftlinge direkt in die Produktionsabläufe eingebunden. Sie waren direkt im Werk, in den Kantinen und Umkleideräumen, untergebracht. Eine Fabrikhalle nach der anderen bezog die Leitung in das KZ-Werk mit ein, am Ende nahezu das ganze Werkgelände. Im Weiteren übertrug sie das in Oranienburg erprobte Geschäftsmodell nach Barth und Wien, wo es nicht es allerdings nicht so „reibungslos“ umgesetzt werden konnte – auch, weil hier die SS direkt in den Werkhallen präsent war, während in Oranienburg die Aufsicht in den Hallen bei den zivilen Beschäftigten lag. Diese intensive Verzahnung mit der SS kommt nach meinem Empfinden in der Ausstellung noch zu kurz, war sie doch ein zentrales Moment des Agierens der Heinkelwerke.
Stadtgespräche: War Heinkel für diese Entwicklungen persönlich verantwortlich?
Dr. Roman Fröhlich: Für die Umsetzung der Einbindung von KZ-Häftlingen in die Produktion vor Ort waren Karl Hayn und die Werksleitungen an den Standorten zuständig. Als das Beschäftigungsmodell „KZ-Werk“ 1942 eingeführt wurde, war Ernst Heinkel noch alleiniger Eigentümer – das wird in der Ausstellung meines Erachtens nicht ausreichend deutlich, hier hätte ich mir mehr Klarheit gewünscht. Dort ist zu lesen, Heinkel hätte die Produktionsabläufe in Oranienburg „bereitwillig“ angepasst. Das greift meines Erachtens zu kurz. Es ist belegt, dass Karl Hayn und seine Kollegen das Beschäftigungsmodell entwickelt und sich direkt bei der SS um KZ-Häftlinge als Arbeitskräfte bemüht haben. Ernst Heinkel war bei Schlüsselbesprechungen anwesend und bemühte sich persönlich um Arbeitskräfte, wie z. B. Strafgefangene.
Stadtgespräche: Anders als in der Ausstellung von 2002 wird das Thema Zwangsarbeit ja in der aktuellen durchaus aufgegriffen – wird die Thematisierung aus Ihrer Sicht der damaligen Situation gerecht?
Dr. Roman Fröhlich: Für meine Begriffe behandelt die jetzige Ausstellung das Thema in Teilen noch zu beiläufig – es wird nicht in vollem Umfang klar, wie umfangreich der Zwangsarbeiter:inneneinsatz war. Gerade da, wo man die Ausbreitung des Werkes in der Stadt mit einer Karte visualisiert, hätte sich auch gut veranschaulichen lassen, wie viele Zwangsarbeiter:innenlager es in Rostock ab 1940 gab. Das betraf keineswegs nur die Heinkelwerke – diese aber eben auch und in hohem Maße. Das wird in der Ausstellung an anderer Stelle sichtbar, in einer Bildschirmpräsentation, aber nach meinem Empfinden noch zu versteckt. Gleichzeitig gelang Kurator Klein die sehr gut sichtbare Thematisierung des KZ-Außenlagers in Barth, an der man selbst bei einem Rundgang ohne Audioguide oder Führung nicht vorbeikommt. Und dort wird Heinkels Vorreiterrolle bei der Beschäftigung von KZ-Häftlingen klar benannt. Hier nimmt man dann ganz deutlich wahr: Die Verantwortlichen bei Heinkel entschieden zum Wohle des Unternehmens und nahmen dabei den Tod der Arbeitskräfte billigend in Kauf.
Stadtgespräche: Gerade bei diesem Thema geht es aber auch um die Frage nach der Verantwortung der Rostocker Stadtgesellschaft, oder?
Dr. Roman Fröhlich: Ja, das würde ich schon sagen: Um kollektive Verantwortung, darum, inwiefern die Stadt Heinkels Agieren befördert oder zumindest toleriert hat. Und da wird dann durchaus deutlich, dass man ihm günstige Produktionsbedingungen geboten hat: Es wurden Flächen bereitgestellt, Grundstücke verkauft, Grundlagen für das Wachstum des Unternehmens geschaffen – Wirtschaftsförderung betrieben, die er gern in Anspruch nahm. Rostock war ein Ort, wo Ernst Heinkel seine Pläne gut umsetzten konnte. Gleichzeitig ist mir durch meine Forschungen zum Thema deutlich geworden, dass Heinkel die Stadt und die dort lebenden Menschen vermutlich gleichgültig waren, wenn er davon nicht profitieren konnte. Er setzte die Menschen der Stadt erheblichen Risiken aus, wie etwa durch die Platzierung von Materiallagern mitten in den Wohngebieten. Er selbst übersiedelte ins lange luftsichere Wien und erlebte das Kriegsende in Tirol.
Stadtgespräche: Wird das in der Ausstellung deutlich?
Dr. Roman Fröhlich: Nicht ausreichend, finde ich. Wer die Ausstellung betritt, erfährt zunächst viel über die Werksentwicklung, allgemein und in Rostock: Den im Zusammenhang damit betriebenen Wohnungsbau, im Werk angebotenes vegetarisches Essen, Heinkels positiven Umgang mit seinen Arbeiter:innen, das von ihm installierte Vorschlagswesen. Die sehr gute Führung des Kurators Klein, an der ich teilgenommen habe und die ich nur empfehlen kann, arbeitet dies deutlicher als die Ausstellung selbst heraus: Ernst Heinkels Handeln hatte nichts Selbstloses, sondern diente immer der optimalen Entwicklung seines Unternehmens. Offen bleibt ein genaues Bild davon, wie die Beschäftigten in den Heinkelwerken tatsächlich eingestellt waren. Warum arbeiteten sie dort, und in wieweit identifizierten sie sich mit einem Unternehmen, dessen Führung keinerlei Berührungsängste mit der SS hatte? Es gab überdurchschnittlich gute Gehälter und soziale Standards für die „regulären“ Beschäftigten und in einem als sehr modern geltenden Unternehmen angestellt zu sein hat sicher zur positiven Identifikation beigetragen. Gleichzeitig berichtete 1934 ein sozialdemokratischer Beobachter, dass die Rostocker Heinkel-Belegschaft nicht an politischen Themen interessiert sei und für politische Arbeit nicht in Frage kommen würde. Zu dieser Botschaft und der daraus erwachsenden Frage nach der Verantwortung der Rostocker Belegschaft fand ich in der Ausstellung nichts. Es bleibt offen, wer zum Beispiel nicht in die neugebauten Siedlungen einziehen konnte und für wen es keinen Platz (mehr) innerhalb der „Volksgemeinschaft“, zu der die Heinkelianer:innen gehörten, gab. Auch die Frage, wem eigentlich die Grundstücke gehörten, die dann in Heinkels Besitz übergingen, insbesondere die Häuser und Villen, die er für seine leitenden Angestellten erwarb, wird nicht thematisiert. Als ich seinerzeit bei der Stadtverwaltung dazu anfragte, erhielt ich als Antwort, dass es hierzu im Grundbuch keine Einträge gäbe – eigentlich fast unvorstellbar. Möglicherweise gab es in Rostock Vorkommnisse, die mit den Ereignissen in der Stuttgarter Rosenbergstraße vergleichbar sind. Dort gehörte ein später von Ernst Heinkel gekauftes Haus einem älteren jüdischen Ehepaar, das erst sukzessive in die Armut getrieben, dann deportiert und anschließend zum Verkauf an Heinkel gedrängt wurde. In Wien und in Jenbach wohnte Ernst Heinkel in zuvor enteigneten Häusern. Gut möglich, dass sich Ernst Heinkel auch in Rostock für solche Immobilien interessierte. Dies zu erforschen erscheint mir wichtig und lohnenswert und kann ein Anknüpfungspunkt für die weitere Auseinandersetzung mit Ernst Heinkel in Rostock sein.
Stadtgespräche: Die Empfehlungen der Heinkelkommission, in den frühen 2000er Jahren erarbeitet, haben deutlich gemacht, dass es mehr als nur eine Ausstellung braucht, um diese Themen im lokalen kollektiven Bewusstsein zu verankern. Was erschiene Ihnen hier empfehlenswert?
Dr. Roman Fröhlich: Da wäre zum einen die Sichtbarmachung im öffentlichen Raum – etwa jener Orte, an denen die Zwangsarbeitenden damals untergebracht waren, die in Rostock zur Arbeit gezwungen wurden. Das ginge dann über Heinkel hinaus, denn zum Beispiel auch Behörden und Krankenhäuser beschäftigten Zwangsarbeiter:innen. Diese „Greifbarkeit“ durch die historischen Orte ist eine große Chance, die man nutzen kann. Und man kann sich natürlich auch direkt und aktiv mit den Erinnerungen auseinandersetzen, die in der Stadtgesellschaft an diese Zeit noch lebendig sind. Hier gilt es, das Erinnerte kritisch zu prüfen und darauf zu achten, dem von Heinkel geschaffenen Mythos nicht auf dem Leim zu gehen. Die zu stellenden Fragen führen dann schnell zur Beschäftigung mit der eigenen Familienbiographie: Wie stand es um die eigenen Eltern/Großeltern? Sich mit diesen auseinanderzusetzen, kann unangenehm sein, aber eigentlich sollte man sich dem stellen, denke ich.
Stadtgespräche: Geht es dabei nicht auch um die Frage nach der wirtschaftlichen Verantwortung – und damit darum, ob wir für heutige Entwicklungen aus der Geschichte lernen können? Stellt sich die Frage nach einem Ethos, dem unternehmerisches Handeln verpflichtet ist, nicht auch jetzt wieder?
Dr. Roman Fröhlich: Auch die Beschäftigung mit diesem Thema gehört ja zu den Empfehlungen der Expertenkommission. Aber das kann, finde ich, eine Ausstellung wie die aktuelle nicht wirklich leisten. Der Leiter des Kulturhistorischen Museums, Dr. Steffen Stuth, hat den viel zu lange ruhenden Ball aufgegriffen, und der Kurator Klein mit der Ausstellung die Debatte um Heinkel in der Öffentlichkeit wieder angestoßen. Ausstellungen sind durch die ihnen zugrundeliegenden Schwerpunktsetzungen enge didaktische Grenzen gesetzt, die man mit Führungen und Vorträgen nur begrenzt aufweichen kann.
Stadtgespräche: Sie selbst kommen ja aus der historischen Forschung. Wäre die Aufarbeitung der Rolle Heinkels in und für Rostock nicht auch ein Arbeitsauftrag an die Wissenschaft, konkret an die Universität Rostock?
Dr. Roman Fröhlich: Ja. Im Rahmen der Fachtagung wurde immer wieder deutlich, wie groß die Forschungslücken sind, die noch bestehen. Weiterführende Forschungen etwa zur Zwangsarbeit in Rostock von 1933 bis 1945 fehlen meines Erachtens. Welche Menschen durch die Lager gehen mussten, wie diese Lager organisiert waren, wer wo untergebracht war, wurde ist bislang nicht umfassend erforscht. Karl Heinz Jahnke verwies bereits 2002 darauf, dass es an der Zeit sei, eine umfassende wissenschaftliche Biographie über Ernst Heinkel zu erarbeiten und die Geschichte der Ernst Heinkel Flugzeugwerke Rostock als Teil der Industrie- und Sozialgeschichte Mecklenburgs zu erforschen. Dabei komme dem Einsatz von Zwangsarbeiter:innen ebenfalls Bedeutung zu. Auch die Erforschung des Antifaschistischen Widerstands bei Heinkel stehe noch aus.
Die Ausstellung erzählt ja auch davon, dass einige der Mitarbeiter, die in der Hitlerzeit leitende Mitarbeiter in den Heinkelwerken waren, nach 1945 Professuren an der Universität Rostock bekamen und zum Teil bis in die 1970er Jahre innehatten.
Dr. Roman Fröhlich: Auch das ist ein Thema, das noch der Aufarbeitung bedarf. Diese Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte der Firma Heinkel und seines Eigentümers kann nicht 1945 enden. Die aktuelle Ausstellung gibt da eine gute Richtung vor. Was die Verknüpfung zwischen Mitarbeitern der Universität nach 1945 und Heinkel betrifft, stellt sich die Frage, ob die Fakultäten der früheren Lehrstuhlinhaber zur Aufarbeitung bereit sind. Insofern sind hier die jeweiligen Dekan:innen gefragt – und natürlich die historische Fakultät der Universität Rostock. Gibt es Forschungsergebnisse, dann leitet sich daraus der Arbeitsauftrag an die Didaktik ab, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Stadt hineinzutragen. Zum Mythos Heinkel nach 1945 hat Felix Wander vom deutschen Museum in München bei der Begleittagung in seinem Beitrag deutlich gemacht, wie wichtig ein Entmystifizierung von Heinkel ist. Erneut wurde deutlich: Ernst Heinkel bietet keinen Grund für Glorifizierungen. Darauf zu verzichten heißt aber nicht, dass es in Rostock keine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Luftfahrt geben kann, in deren Rahmen die technischen und wissenschaftlichen Leistungen dargestellt und aus ihrer Zeit erklärt und bewertet werden, jenseits der Mythisierung.
Das haben sowohl die Tagung und als auch Karl Heinz Jahnke schon vor zwanzig Jahren verdeutlicht. Stephan Horn vom Militärhistorischen Museum Flugplatz Berlin-Gatow gab am Ende der zweitägigen Veranstaltung mit auf den Weg, dass dafür klar sein muss, was an einem solchen Ort erzählt und für wen es erzählt werden soll. Anstelle einer eher rückwirkenden Diskussion mit Narrativen über Personen, die mit Heinkel biographisch verbunden waren und sind, sollte, so Horn weiter, gefragt werden, was die Geschehnisse in Rostock mit uns im Hier und Heute zu tun haben und auf das zukünftige Publikum fokussieren. Es liegt an Kurator Klein, dem Leiter des Kulturhistorischen Museums, Dr. Stuth, und den Oberen der Stadt, den ins Rollen gebrachten Ball weiterzuspielen und Ausstellung und Fachtagung eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema Heinkel und Rostock folgen zu lassen.